Aspekte Sehen – Philosophische Untersuchung von Ludwig Wittgenstein

Heute möchte ich einen eher theoretischen Blick auf ein Phänomen geben, das mir schon mehrfach im Prozess der Bildanalyse begegnet ist. Ich betrachte Bilder über einen längeren Zeitraum und bemerke plötzlich einen Aspekt im Bild, der mir trotz mehrmaliger Betrachtung vorher nicht aufgefallen ist. Vergleichbar ist dieser Moment mit dem sogenannten „Aha-Effekt“, dem Aufleuchten eines Gedanken.

Ludwig Wittgenstein (2001) hat diesen Umstand „Aspekte Sehen“ genannt. Bemerkt man bei der Betrachtung einer Darstellung  plötzlich die Ähnlichkeit zu etwas anderem, dann würde Wittgenstein davon sprechen, dass man einen „Aspekt“ bemerkt hat.

Wer in einer Figur (1) nach einer anderen (2) sucht, und sie dann findet, der sieht (1) damit in einer neuen Weise. Er kann nicht nur eine neue von ihr Beschreibung geben, sondern jenes Bemerken war ein neues Seherlebnis. (Wittgenstein 2001: 1033)

Ein Beispiel an dem Wittgenstein das Aspekte Sehen verdeutlicht, ist folgendes Bild:

H.-E.-Kopf (Eigene Darstellung nach Witggenstein 2001: 1025)

H.-E.-Kopf (Eigene Darstellung nach Witggenstein 2001: 1025)

Wahrscheinlich seht ihr hier einen Entenkopf (1). oder vielleicht auch einen Hasenkopf (2)? Beide möglichen Ansichten verschmelzen miteinander, da sie gleichzeitig existieren. Wittgenstein spricht beim Sehen (in diesem Falle den Kopf, den man vorher noch nicht gesehen hat) des neuen Aspektes auch vom „Aufleuchten“ des Aspektes.

Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. (Wittgenstein 2001: 1024)

Nach Wittgenstein besteht das Aufleuchten eines Aspektes aus dem Seherlebnis – also der unmittelbaren Wahrnehmung – und aus dem Denkprozess. Dem Seherlebnis schließt sich ein gedanklicher Ausdruck an, der widerum das Sehen lenkt und dieses wieder das Denken.

Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten. (Wittgenstein 2001: 1025)

Bei der Betrachtung und Analyse von Bildern sollte man sich diesen Umstand bewusst machen. Er zeigt, dass Bilder trotz ihrer simultanen Visualität (vielleicht auch gerade deswegen) nicht alle Aspekte zur gleichen Zeit für den Betrachter sichtbar machen.

Mehr zum Aspektesehen von Wittgenstein könnt ihr in diesem Wiki nachlesen oder wer nicht selbst lesen möchte auch in diesem Podcast.

Literaturnachweis:

Wittgenstein, Ludwig (2001): Philosophische Untersuchungen. Kritisch-Genetische Edition. Frankfurt: Suhrkamp.